Was macht man eigentlich, wenn man den Auftrag hat eine berühmte Persönlichkeit zu fotografieren und am Tag der Wahrheit feststellt, dass die Person um die sich alles dreht, dass gar nicht will?
Im März 2004 hatte mich das Magazin „Bücher“ beauftragt Martin Walser zu portraitieren. Sein neuer Roman „Im Augenblick der Liebe“ war in aller Munde und die Redaktion plante ein längeres Interview mit ihm, dass der erfahrene Journalist Roman Pliske führen sollte.
Meine Aufgabe war, starke Portraits – auch für die Titelseite! – von Martin Walser zu liefern.
Ich erbat mir dafür „mindestens eine halbe Stunde ungestörte Fotografierzeit“ und bekam prompt grünes Licht von der Bildredaktion.
Wir trafen Martin Walser an einem milden Sommervormittag in einer Hotellobby in Mainz. Ich war angespannt, aber auch hoch motiviert.
Als Herr Walser uns dann erzählte, dass er „wohl gestern Nacht, nach der schönen Lesung mindestens einen Guten Roten zu viel“ getrunken hatte und er auch sichtlich verkatert war, ahnte ich schon, dass ich in den nächsten Stunden keinen einfachen Job haben würde.
Es gelang mir vorzuschlagen, das Interview draußen im Hotelpark zu führen. Ich freute mich „auf ideales Licht für tolle Portraits,“ er allerdings auf „ein schönes Gespräch, bei frischer Luft gegen seinen Kater.“ Ich verstand.
Wir verließen die Hotellobby durch den Hintereingang und erreichten so auf schnellstem Weg unser Ziel. Mit respektvollem Abstand, fotografierte ich, wie Martin Walser, der weltberühmte Bestsellerautor, mit meinem Redaktionskollegen durch einen öffentlichen Park spazierte.
Als die beiden dann nach einem kurzen Spaziergang im Park auf einer Bank Platz nahmen, sollte ich endlich Gelegenheit haben, Herrn Walser ein wenig näher zu kommen. Ich kniete mich etwa drei Meter von der Parkbank entfernt auf den Boden und nahm ihn mit einem leichten Tele seitlich ins Visier. Während er sich engagiert mit meinem Redakteur unterhielt, drückte ich im gefühlten Zehnsekundentakt auf den Auslöser. Ja, ich agierte schüchtern und zurückhaltend und realisierte:
„Von starken Portraits bist du meilenweit entfernt!“
Was mir fehlte, war schlicht und einfach Martin Walsers Bereitschaft, sich auf mich und meine Kamera einzulassen. Als ich bemerkte, dass die beiden ihr Gespräch für einen kurzen Moment unterbrachen, entschied ich ein wenig offensiver zu werden. Ich bewegte mich gute zwei Meter näher an ihn heran, legte mir einen perfekten Bildausschnitt zurecht und wartete geduldig und ohne einen Mucks von mir zu geben auf Martin Walsers Blick in meine immer schwerer werdende Kamera. Und ja, irgendwann war es dann endlich so weit. Er drehte sich zu mir, schaute mit gequältem, gar schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck durch mein Objektiv, um mir dann in warmherzigen, liebevollen Tonfall zu sagen, was er von meiner Arbeit hält:
„Wissen Sie, sie brauchen mich doch überhaupt nicht zu fotografieren. Es gibt schon so viele Fotos von mir. Bitte setzen sie sich doch zu uns. Es ist ein so tolles Gespräch.“
Als ich sah, dass er auf der kleinen Bank tatsächlich ein wenig zur Seite rückte und versuchte, mir mit einer einladenden Handbewegung den frei gewordenen Platz schmackhaft zu machen, realisierte ich endgültig: Der Mann ist nur zum sprechen hier.
Mir war nicht entgangen, wie sehr Martin Walser meinen Redakteur Martin Pliske schätzte und das Interview mit ihm genoss. Wie gute alte Freunde saßen die beiden beisammen, sprachen über Rotwein, die Liebe und natürlich das Schreiben.
Der einzige, der im Begriff war, dieses Idyll zu stören, war ich. Ich entschied mein gesamtes fotografisches Konzept über Bord zu werfen. Inszenierte und titelseitentaugliche Portraits – für die ich Martin Walsers uneingeschränkte Aufmerksamkeit benötigt hätte – sollte es nicht geben.
„Ab jetzt werde ich unsichtbar sein!“,
versprach ich und bewegte mich hastig von der Parkbank aus einen leicht abschüssigen Abhang hinunter. Nach etwa zwanzig Metern legte ich mich bäuchlings ins feuchte Gras, um dann, wie ein Jäger auf der Pirsch, mit meiner Kamera auf das Interviewpaar zu zielen. Das Fotografieren aus der Deckung war eine ganz neue Erfahrung für mich. Es hatte schon was paparaziemäßiges und nur sehr wenig mit meinem eigentlichen Verständnis von Portraitfotografie zu tun.
Die Frage, ob diese konspirativ und reportageähnlich geschossenen Fotos sich aus Sicht meines Auftraggebers überhaupt dazu eignen veröffentlicht zu werden, versuchte ich zu verdrängen. Ich hatte meine kleine Geschichte. Martin Walser, der große, alte, freundliche und bedeutende Schriftsteller, saß an einem milden Frühlingstag auf einer öffentlichen Parkbank in Mainz, sichtbar verkatert und übermüdet. Doch angesichts seines neben ihm sitzenden, glänzend vorbereiteten und äußerst einfühlsamen Gesprächspartners Roman Pliske, gab er alles. Meine Aufgabe war, genau das festzuhalten. Still und Leise.
„Liebenswürdige Menschen sind gefährlich!“
Das sagte Martin Walser, als er versuchte uns zu erlären, wie es zu seinem vorabendlichen Alkoholabsturz kommen konnte. Es saßen eben zu viele „liebenswürdige Menschen“ mit ihm beisammen. „Erst beim Italiener, dann nachts an der Hotelbar. Ich vergaß mich.“
Das Interview mit Martin Walser ist im April 2004 im Magazin „Bücher“ erschienen.